Für Medizinpersonal

Hebamme sein – ein Traum, der zum Albtraum werden kann.
So nah am Leben, der Freude, doch auch unweit von Tod und Trauer.
Manchmal bäumt sich alles in mir auf.
Es gab Nächte, in denen ich wach im Bett lag und schluchzte, weil ich nicht mehr konnte.
Ich wollte alles hinschmeißen.
Immer wieder tauchten Bilder auf, und das Gewirr von Fragen wurde größer und belastender.
Was war passiert? War ich nicht mehr das aufgeweckte junge Mädchen von Anfang zwanzig?
Ich sprühte immer voller Lebensmut, erfreute mich an der Natur, war kreativ, sang gerne, las Bücher und traf mich mit Freunden.
Auf einmal wurde mein Alltag grau, Wolken zogen zu.
Vielleicht war ich nach außen hin dieselbe, aber tief in mir wurde es immer kälter.
Es war im Dezember, als ich zum ersten Mal ein abgetriebenes Kind in den Händen hielt.
Bereits in der 22. SSW musste es von dieser Welt gehen.
Wenige Tage später wurde ich gebeten, zu einem Fetozid in der 34. SSW mit in den OP-Saal zu gehen. Ich lehnte ab.
Jeden Tag kam ich mit Angst in den Kreißsaal: Was wird heute auf mich warten? Und dann waren da diese lauten Stimmen in meinem Herzen:
„Wieso diese Kinder, wieso nicht ich? Was ist an mir liebenswerter?
Wieso durften diese Kinder keine bedingungslose Liebe erfahren?“
Mir geht es nicht um Schuldzuweisung oder Verurteilung.
Ich wurde Zeuge einer großen Ungerechtigkeit und das drückt mich nieder. Es ist grausam, dabei zusehen zu müssen und nichts dagegen tun zu können.
Ich sehe die Angst in den Augen der Eltern. Gedanken kreisen in ihren Köpfen:
Wird es der richtige Schritt sein? Wird der Abbruch nicht eine viel größere Last werden?
Ich habe keine Eltern gesehen, an denen ein Fetozid spurlos vorüberging.
Somit ist meine Sorge nicht nur gegenüber dem Kind da, sondern auch gegenüber den Eltern.
Was wird aus ihnen werden?
Auch an mir ging es nicht einfach vorbei. Viele Krisen lösten sich in mir aus.
Was ist der Sinn des Lebens? Was definiert das Menschsein? Bei welchen Handlungen kann ich mit gutem Gewissen dabei sein, wann werde ich „Mittäter“ an diesem furchtbaren Geschehen?
Eine Freundin fragte mich eines Tages, ob das kurze Leben eines abgetriebenen Kindes in meinen Augen sinnlos wäre. Ich entgegnete ihr mit einem „Ja“. Hatte man ihm nicht das Leben geraubt, das einzigartig und für alle Mitmenschen bereichernd gewesen wäre?
Sie konnten nie lieben und nie geliebt werden. Doch kaum hatte ich das Wort ausgesprochen, zuckte ich zusammen. Was sagte ich da?
Jedes Leben hat einen Sinn, egal wie kurz. Kein Mensch kann einem anderen den Sinn des Lebens nehmen – es ist Gott, der uns diesen verleiht. Der Grund unseres Daseins ist Gottes Abbild zu sein, um somit bei Ihm in Ewigkeit zu sein. Hatten diese Kinder das nicht schon erreicht? Diese Freundin tröstete mich auch mit dem Gedanken, dass es nicht wahr sei, dass niemand diese Kinder liebe. Meine Tränen seien der Beweis …
Dieses und viele andere Gespräche bewirkten, dass die düsteren Wolken in mir endlich aufbrachen und die Sonne wieder strahlte. Es kehrte tiefer Friede ein und noch größere Liebe zu den Familien. Trotzdem überrollt mich immer wieder die Angst. Werde ich standhalten, die Hoffnung nie verlieren und ausreichend lieben können?
Oft, ja sehr oft, denke ich an meine kleinen unschuldigen Freunde, die keinen Platz in dieser Welt fanden. Dann überwältigt mich die Trauer aufs Neue und ich weine um diese Kinder, weil sie nicht mehr sind.
Mir wurde bewusst, dass der Weg zur Hebamme kein leichter ist. Entweder man wird von den schweren Dingen niedergedrückt oder man wird gleichgültig, und die einzigartigen Momente werden zur Routine. Dies bleibt weiterhin meine Sorge. Eine Hebamme sagte mir am Anfang meines Studiums, dass man als Mädchen beginnt den Beruf zu erlernen und als Frau herausgeht. Ich verstand damals nicht, was sie meinte, aber jetzt begreife ich, dass Hebamme zu werden ein Kampf bedeutet und man nur als Heldin ans Ziel kommen kann. Und können wir dann nicht mit Stolz sagen, dass wir alles für die Mütter und ihre Kinder geben? Wir die Welt so viel heller und schöner machen? Sensibel zu sein ist keine Schwäche, sondern der Zugang zum Leben. Wer, wenn nicht wir, sollte um jedes Leben kämpfen und es beschützen?
Jeder, wirklich jeder Mensch ist einzigartig und unendlich liebenswert.
Immer wieder bin ich mit der VillaVie im Kontakt. In verzweifelten Stunden kann ich mich ausschütten, mir wird zugehört, und was am wichtigsten für mich ist: Da ist jemand, der genau weiß, was ich da durchmache. Ich bin nicht allein. Wir Hebammen brauchen diese Vernetzung!
Es gibt Stunden, in denen wir Hilfe brauchen, aber auch Stunden, in denen wir andere auffangen müssen.

Christin